Sparte Industrie

Europäische Rohstoffpolitik aus dem Dornröschenschlaf wecken

Eine zielgerichtete und kohärente Rohstoffpolitik kann maßgeblich zur Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen und europäischen Industrie beitragen.

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Österreich und die Europäische Union stehen vor gewaltigen Herausforderungen, das hat die Rede zur Lage der Union von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Mitte September einmal mehr klargemacht. Gesundheitskrise, Digitalisierung der Wirtschaft, Klimawandel, nachhaltige Produktion und Konsum, Handelskonflikte, alle diese Themen und mehr standen im Vordergrund. Ein Thema jedoch ist mit all diesen Herausforderungen eng verknüpft: die Rohstoffsicherheit der Industrie. Ohne eine wettbewerbsstarke und krisenfeste Industrie ist wohl keine der genannten Fragestellungen zu lösen. Dafür benötigt die Wirtschaft einen sicheren Zugang zu qualitativ hochwertigen Rohstoffen zu kompetitiven Preisen. Obwohl die Rohstoffsicherheit daher zwar nicht unbedingt immer im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit steht, spielt sie doch eine zentrale Rolle für unsere Zukunft

In einem Bericht aus dem Jahr 2018 prognostiziert die OECD, dass sich der jährliche globale Materialverbrauch bis 2060 im Vergleich zu 2011 mehr als verdoppeln und rund 167 Milliarden Tonnen erreichen wird. Daher wird sich der globale Wettbewerb um Materialien und damit auch der Umweltdruck intensivieren. Dieser Trend dürfte bei Rohstoffen wie Lithium und Kobalt (verwendet in Batterien) oder Borate (verwendet in Windkraftanlagen), die für die österreichische und europäische Industrie von strategischer Bedeutung sind, noch ausgeprägter sein. Damit wir also in den Zukunftsbranchen - wie etwa umweltfreundliche Energien, smarte und nachhaltige Mobilität und digitale Technologien - nicht weiter von den führenden Wirtschaftsräumen, insbesondere USA und China abgehängt werden, ist eine koordinierte, gemeinsame Vorgangsweise der Politik genauso entscheidend wie die Kreativität und der Erfindergeist der Unternehmerinnen und Unternehmer. 

In der aktualisierten Industriestrategie und der darin enthaltenen Bestandsaufnahme der strategischen Abhängigkeiten und Kapazitäten der EU wird auf die Abhängigkeit von der Versorgung mit Rohstoffen aus Drittländern aufmerksam gemacht. Eine Studie der Europäischen Kommission zur Verwendung von kritischen Rohstoffen in strategischen Technologien, von IKT, automatisierter Produktion, 3D-Druck, Mobilität, erneuerbaren Energien bis hin zu Militärtechnologien führt die Bedeutung dieser Einschätzung eindrücklich vor Augen. Und es sind gerade diese Technologien, die die Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes in die Lage versetzt, die gesteckten Ziele zu erreichen, sowohl im Klima- und Nachhaltigkeitsbereich, als auch im Bereich der erst kürzlich von der Kommission zum Leitprinzip ausgerufenen offenen strategischen Autonomie. Zuguterletzt gibt es in diesen Branchen zweifelsohne auch massive Wachstumschancen, die die österreichischen Unternehmen nur ergreifen werden können, wenn sie es schaffen, ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit zu behaupten und auszubauen. 

Die bereits erwähnte Analyse der OECD sowie weitere Studien im Auftrag der Kommission zeigen die rasante Zunahme der Nachfrage nach einer Reihe von Rohstoffen. Seit 2011 wird daher alle vier Jahre eine Liste der sogenannten kritischen Rohstoffe auf EU-Ebene erarbeitet, zuletzt im Jahr 2020. Im Aktionsplan für kritische Rohstoffe vom September 2020 wurden 10 Maßnahmen für eine sichere und nachhaltige Versorgung mit kritischen Rohstoffen und zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit und der offenen strategischen Autonomie der EU vorgestellt. Die dringendsten Maßnahmen betreffen die sogenannten seltenen Erden. Die fast ausschließliche Abhängigkeit von China bei diesen Rohstoffen ist nicht nur für die EU, sondern auch für die USA, das Vereinigte Königreich und weitere Wirtschaftsräume alarmierend. Weitere Abhängigkeiten, etwa vom Kongo für Kobalt oder von Brasilien für Niobium, lassen das Ausmaß des Risikos für die österreichische und europäische Industrie erahnen. Insbesondere die schwelenden oder bereits offen zutage tretenden Handelskonflikte mit einigen dieser Staaten stellen aufgrund der fehlenden Diversifizierung eine große Belastung für die heimische Wirtschaft dar. Bestrebungen der EU-Politik nach ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit entlang der gesamten Wertschöpfungskette tragen ihr Übriges zu einer angespannten Situation bei der Versorgungssicherheit bei. 

Im Aktionsplan werden die Mitgliedstaaten daher aufgefordert, die heimischen Ressourcen besser zu nutzen, indem Projekte zur Gewinnung und Verarbeitung kritischer Rohstoffe sowie zur Verwertung von Rohstoffabfällen ermittelt werden, die bis 2025 einsatzbereit sein können (z. B. durch einschlägige Investitionen in die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne). Die heimische Beschaffung hat das Potenzial, bis 2030 20 % der jährlichen Nachfrage in der EU decken. Das wurde von der Europäischen Rohstoffallianz (ERMA) ermittelt, deren Formierung eines der Schlüsselelemente des Aktionsplans ist. Sie soll die wichtigsten Stakeholder – Industrie, Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft – zusammenbringen um gemeinsame Konzepte zu erarbeiten. Eine andere Kerninitiative ist die Entwicklung strategischer Partnerschaften mit anderen Regionen, innerhalb und außerhalb Europas, um die Diversifizierung der Rohstoffversorgung voranzutreiben. Überdies soll die Forschung zu Abfallverarbeitung, fortschrittlichen Materialien und Substitution über die Finanzierungsprogramme von Horizon Europe, dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung sowie nationale Investitionsagenden forciert werden. 

Neben der bereits erwähnten Allianz, deren Ziel es ist, die EU-Rohstoffindustrie zu unterstützen, Materialien zu extrahieren, zu entwickeln, herzustellen und zu recyceln sowie Innovation, strategische Investitionen und industrielle Produktion über spezifische Wertschöpfungsketten hinweg zu fördern, gibt es noch eine Reihe anderer Initiativen auf EU-Ebene, die sich mit dem Thema beschäftigen. Darunter fällt etwa das sogenannte European Innovation Partnership (EIP) on Raw Materials, welche bisher eine ähnliche Funktion wie die neuformierte Allianz erfüllt hat. Darüber hinaus gibt es im Rahmen des European Institute for Technolgy (EIT) auch ein Department für Rohstoffe (EIT Raw Materials), welches spezifische Finanzierungsmöglichkeiten für innovative Unternehmen, Beratung und Förderprogramme für Start-ups sowie Trainingskurse anbietet. 

Die österreichische Industrie trägt mit rund 47 Mrd € oder 25% zur österreichischen Bruttowertschöpfung bei und sichert dabei mehr als 440.000 Arbeitsplätze. Es ist die Aufgabe der BSI, die Interessen der verschiedenen Betriebe und Branchen auch in Brüssel zu vertreten. Wir setzen uns bei Kommission und Europaparlament dafür ein, Tendenzen, die den nachhaltigen Bergbau in Europa und die Beschaffung weltweit erschweren, entgegenzuwirken. Realistische Zielsetzung und kohärente Gesetzgebung und insbesondere die Vermeidung von regulatorischen Doppelgleisigkeiten auf der einen Hand und von Verzögerungen und Engpässen auf der anderen sind das Um und Auf. Das gilt auch für die Koordination bestehender Initiativen und Programme. Der Fokus muss auf den Bedürfnissen und Gegebenheiten der Unternehmen liegen und nicht auf einer Perpetuierung von Strategiepapieren, Kooperationsplattformen und Finanzierungsinstrumenten. Dabei müssen immer auch aktuelle und zukünftige Entwicklungen im Auge behalten werden, um mit den Bedürfnissen der Industrie Schritt halten zu können. Zuguterletzt muss der freie und regelbasierte Handel aufrecht erhalten und gestärkt werden, allen protektionistischen Tendenzen zum Trotz. Wenn uns das gelingt, können wir zur Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Industrie beitragen, welche wiederum Voraussetzung für die Erreichung unserer Klima- und Digitalisierungsziele sind. 

Autor
Clemens Rosenmayr, MSc, MSc, BSc
E-Mail
clemens.rosenmayr@wko.at

Stand: 01.10.2021