Klimaneutralität: Industrie muss wettbewerbsfähig bleiben
Endbericht des Dialogprojekts von BSI, Industrie-Fachverbänden, Landessparten und IV mit Österreichischer Energieagentur und AIT skizziert Herausforderungen und Chancen
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Die Industrie gestaltet die Transformation Richtung Treibhausgasneutralität aktiv mit. Wir stehen als Partner der Politik bereit, um Österreich zu einem „grünen“, aber auch international wettbewerbsfähigen Industriestandort zu machen. Dazu sind ambitionierte, aber realistische Ziele zu setzen. Regulatorische Weichenstellungen, basierend auf einem starken politischen Commitment zum Standort Österreich, müssen die Unternehmen in ihren intensiven Bemühungen bestmöglich unterstützen. Mit dem Policy Paper „Im Wettbewerb um die Zukunft“ legen die Bundessparte Industrie, Industrie-Fachverbände und –Landessparten sowie die Industriellenvereinigung das erste branchenübergreifende Papier zum Thema Klimaneutralität vor. Die aktive Teilnahme zahlreicher Experten aus Schlüsselunternehmen der Industrie ermöglichte wertvolle betriebliche Perspektiven. Projekt- und Dialogpartner in mehreren Workshops sowie Auftragnehmer waren die Österreichische Energieagentur (AEA) und das AIT Austrian Institute of Technology.
Die Industrie braucht wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen
Die rund 5.000 Industriebetriebe beschäftigen mehr als 430.000 Menschen, die durchschnittliche Exportquote beträgt 65%, mit Branchen-Spitzenwerten von über 80%. Deshalb ist es so wichtig, dass die Unternehmen international wettbewerbsfähig sind. Der Standortwettbewerb bietet keinen Spielraum für einseitige Zusatzkosten. Bereits die aktuellen klimapolitischen Zielsetzungen der EU, mit einem Treibhausgas-Reduktionsziel von 40% bis 2030 gegenüber 1990, bedeuten die ambitionierteste Zielsetzung weltweit – bei einem Anteil von nur rund 10% der globalen Treibhausgasemissionen. Die unterschiedlichen Ambitionsniveaus führen zu Standortnachteilen der im internationalen Wettbewerb stehenden energieintensiven Industrie.
Um Planungs- und Investitionssicherheit zu gewährleisten, sind jedenfalls kompetitive Rahmenbedingungen notwendig. Dieses „Level Playing Field“ muss eine effektive CO2-Bepreisung auf globaler Ebene (UN) inkludieren. Solange dies nicht vollständig umgesetzt ist, sind ein erweiterter Carbon-Leakage-Schutz im EU ETS und die Umsetzung des - auch im Regierungsprogramms 2020-2024 verankerten - indirekten Carbon Leakage (Kompensation indirekter CO2-Kosten) unverzichtbar. WTO-konforme Grenzausgleichsmaßnahmen (Carbon Border Adjustment Measures) können in einzelnen Sektoren als zusätzlicher Schutz vor internationalen Wettbewerbsnachteilen sinnvoll sein.
Die Industrie wird ihre Emissionen signifikant verringern
Das zentrale Instrument zur Verringerung der Treibhausgasemissionen der Industrie ist der EU-Emissionshandel (ETS) - er umfasst in Österreich 82% der industrierelevanten Treibhausgasemissionen, also der Summe von Emissionen aus der Energieaufbringung (inkl. Raffinerie), dem produzierenden Bereich inkl. Bau und den Prozessemissionen. Die im Policy Paper skizzierte Verringerung dieser industrierelevanten Emissionen beträgt – bei gedanklicher Umlegung der Szenarien aus der EU-Langfriststrategie „A clean planet for all“ (2018) – 79-96% bis 2050. Die absolute Emissionsmenge würde sich demnach von dzt. 39,4 MIo t CO2equ signifikant auf 1,6 bis 8,5 Mio t verringern.
Aus heutiger Sicht können nicht alle prozessbedingten Emissionen vermieden werden. Die Entwicklung und der Einsatz von Technologien zur CO2-Abscheidung und Nutzung (CCU) sowie zur dauerhaften CO2-Speicherung (CCS) werden zur Erreichung der bilanziellen Klimaneutralität notwendig sein, wie dies auch die Nationale Langfriststrategie 2050 belegt. Vorarbeiten dazu müssen zeitnahe in die Wege geleitet werden, die relevanten Forschungen (analog zu Deutschland) sind zu intensivieren, die bestehenden regulatorischen Rahmenbedingungen (insb. CCS-Verbotsgesetz) zu überdenken.
Die Transformation Richtung Treibhausgasneutralität hat begonnen
Die Unternehmen der österreichischen Industrie leisten bereits heute in mehreren Handlungsfeldern wichtige Beiträge zur Reduktion der Treibhausgasemissionen. Im Vordergrund stehen dabei der wachsende Einsatz erneuerbarer Energieträger, weitere Verbesserungen der Energieeffizienz und der Nutzung von Abwärme, die steigende Verwendung alternativer Einsatz- und Rohstoffe als Teil der Bioökonomie und die Steigerung der stofflichen Effizienz in der Kreislaufwirtschaft. Die zunehmende Elektrifizierung von Prozessen und die Substitution von fossilem durch grünes Gas („Greening the Gas“) werden neben dem Einsatz von biogenen Reststoffen aktuell als die relevantesten Optionen zur Verringerung energiebedingter CO2-Emissionen diskutiert. Trotz aller zeitlichen Dringlichkeit und Radikalität in der Festlegung von Zielen müssen die Antworten auf die „Klimakrise“ auf Höhe der physikalischen Realität gegeben werden.
Der Einsatz von grünem und CO2-neutralem Wasserstoff als Produktionsmittel, Energie- und Speichermedium und chemischer Baustein eröffnet in Zukunft insbesondere der energieintensiven Industrie zusätzliche Möglichkeiten zur Dekarbonisierung von Prozessen und zur Treibhausgasreduktion. Grundlegende Überlegungen und Anforderungen wurden in den Arbeitsgruppen zur Nationalen Wasserstoffstrategie erarbeitet. Basierend auf Ergebnissen laufender F&E-Vorhaben und von Pilotprojekten bedarf es einer europaweiten Infrastruktur für Produktion, Transport und Speicherung von Wasserstoff, in engem Konnex mit der bestehenden Gasinfrastruktur. Zusätzliche Investitionen und Betriebskosten der Unternehmen (CAPEX, OPEX) verursachen erhöhten Finanzierungs- bzw. Förderbedarf.
Prozessinnovation und Dekarbonisierung
Die Versorgungssicherheit mit erneuerbarem Strom ist ein „Game-Changer“. Dekarbonisierung bedeutet in vielen Fällen Elektrifizierung industrieller Prozesse und damit erhöhten Strombedarf – natürlich zu wettbewerbsfähigen Preisen. Das Policy Paper skizziert den zusätzlichen Strombedarf der Industrie auf Basis des aktuellen Stromverbrauchs und verfügbarer Szenarien, sowie unter Einbeziehung des möglichen zusätzlichen Umwandlungseinsatzes (Einsatz von Strom zur Umwandlung in Wasserstoff oder andere synthetische Gase sowie Kraftstoffe). Die Abschätzung der AEA und des AIT ergibt für 2050 gegenüber dem heutigen Stromverbrauch der Industrie (rd. 30 TWh) mehr als eine Verdoppelung des Strombedarfs der Industrie, sowie einem geschätzten Gesamtstrombedarf aller Sektoren in Höhe von rund 128 – 177 TWh (ohne chemische Industrie). Aus heutiger Sicht kann diese Menge in Österreich nicht aufgebracht werden – das Gesamtpotenzial für inländische Stromerzeugung auf Basis erneuerbarer Energiequellen liegt gem. Endbericht für 2050 bei rd. 119 TWh.
Die bilanzielle Lücke zwischen Strombedarf und Stromaufbringung bis 2050 sowie die Bereitstellung der mit Produktion, Transport und Speicherung verbundene Infrastruktur stellt eine zentrale Herausforderung am Weg zur Treibhausgasneutralität Österreichs dar. Eine isolierte Betrachtung des „Bilanzraums Österreich“ mit nationalem Ziel ist hier verfehlt. Optionen zur Verringerung bzw. Schließung der Bedarfslücke wären dem Policy Paper zufolge insbesondere die Realisierung zusätzlicher, heute noch nicht abschätzbarer Potenziale, Import von Strom und Import von Wasserstoff inkl. verdichteter Infrastruktur und effektiver Märkte, oder der Umstieg auf andere Energieträger (De-Elektrifizierung). Der Investitionsbedarf für diese Entwicklung ist, vor allem auch in der Industrie, enorm und muss durch entsprechende Finanzierungs- und Förderungsinstrumente gestützt werden. Jedenfalls erforderlich wird eine groß angelegte EU-Strategie zum Import erneuerbarer Energieträger – Kostenvorteile zur Strom- und Wasserstoffherstellung müssen daher auch im außereuropäischen Raum effektiv genutzt werden.
Forschung, Innovation und neue Technologien
Die Transformation des Energie- und Wirtschaftssystems in Richtung Treibhausgasneutralität birgt erhebliche gesellschaftliche, technologische und rechtliche Herausforderungen – aber klug, mit Blick über den nationalen Tellerrand umgesetzt, auch wirtschaftliche Chancen, Wettbewerbsvorteile und neue Märkte. Mit steigendem Klimabewusstsein wächst weltweit der Bedarf an Innovationen, Technologien und Lösungen. Österreichs Industrie ist hier gut aufgestellt, viel Unternehmen haben sich erfolgreich am Weltmarkt etabliert und sind führend in der Entwicklung von modernen und nachhaltigen Klimaschutz- und Energietechnologien.
Im Fokus industriepolitischer Maßnahmen zur Unterstützung der Unternehmen müssen daher – neben der Versorgungssicherheit mit ausreichend Rohstoffen und Energie zu wettbewerbsfähigen Kosten – auch Anreize zur Schaffung entsprechender Marktnachfrage für Low-Carbon-Produkte auf Basis eines geänderten Verbraucherverhaltens und Impulse für Innovation und Forschung stehen. Generelle Richtschnur muss sein: Anreize statt Verbote. Sustainable Finance und Taxonomie als neuer Maßstab am Finanzmarkt dürfen nicht zum Standortkiller werden; sie müssen Investitionen in eine große Technologiebreite zur Erreichung der Klimaziele anreizen und die Unternehmen in den sehr kostenintensiven Transformationsprozessen unterstützen.
Autor:
DI Oliver Dworak
E-Mail: oliver.dworak@wko.at