
Offensive für mehr Fachkräfte
Wiens Betriebe brauchen mittelfristig rund 55.000 Fachkräfte - vom Lehrling bis zum Uni-Absolventen. Eine aktuelle Analyse der Wirtschaftskammer Wien zeigt den Bedarf im Detail.
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Die Augen ständig offen halten nach klugen Köpfen - das gilt im Wiener IT-Unternehmen MP2 IT-Solutions als Devise. „Wir sind immer auf der Suche nach neuen Mitarbeitern, um so unser Know-how auszubauen”, sagt Geschäftsführerin Gerlinde Macho, die das Unternehmen 1999 gemeinsam mit ihrem Geschäftspartner Manfred Pascher gründete. MP2 IT-Solutions ist ein breit aufgestellter ITDienstleister - von der Infrastruktur-Betreuung über Programmierung von Software und Apps, Umsetzung von E-Commerce-Lösungen bis ITBeratung und Trainings. Ein spezieller Fokus liegt auf digitalen Lösungen für den Gesundheitssektor. 50 Mitarbeiter sind in Wien und an den Standorten Zwettl und Graz beschäftigt. Aktuell sucht Macho neue Fachkräfte für den Bereich IT-System Engineering und Web/App- Entwicklung. Man brauche dabei einen langen Atem, sagt sie. „Es ist richtig schwer, jemanden zu finden.” Oft helfe dann der Zufall. „Einmal ist es uns drei Jahre lang nicht gelungen, eine Stelle zu besetzen, dann waren auf einmal gleich drei tolle Bewerber da.” Man habe dann gleich alle drei aufgenommen - „weil sowas ist ein Glücksgriff”. Mitarbeiter zu finden, die sofort voll einsatzbereit sind, sei ohnehin die seltene Ausnahme. „Meist startet der Job mit einer längeren Onboarding- und Einarbeitungsphase. Die Anforderungen in unserer Branche sind extrem komplex geworden. Daher ist es selten, dass jemand ohne Entwicklungsbedarf kommt”, erklärt Macho. Sie selbst ist eine der wenigen Unternehmerinnen in der Branche und setzt sich als Mitgründerin der Initiative „WomeninICT” besonders auch für die Sichtbarkeit und Förderung von Frauen in der IT-Branche ein. Generell hält es die Unternehmerin nicht für entscheidend, welchen Bildungsweg Bewerber genommen haben. Ob jemand eine Höhere Technische Lehranstalt, eine Fachhochschule oder eine Lehre absolviert habe, sei nicht so sehr ausschlaggebend. Eine fundierte IT-Grundbildung ist allerdings wichtig - „reine Quereinsteiger sind seltener geworden”. Und vor allem komme es auf das richtige Mindset an, betont Macho, „die Bereitschaft, sich in die Materie hineinzuknien und dazuzulernen”.

Bildungsbedarfsanalyse zeigt hohen Fachkräftebedarf
Die IT-Branche ist nur eine von vielen, die derzeit händeringend nach Fachkräften sucht. Das zeigt auch die jüngste Umfrage der Wirtschaftskammer Wien, in der knapp 1000 Betriebe mit 80.000 Beschäftigten zu ihrem Bedarf an Absolventen der verschiedenen Schul- und Ausbildungsformen für die nächsten Jahre befragt wurden. Das Ergebnis: In den nächsten drei bis fünf Jahren suchen die Wiener Betriebe rund 55.000 Fachkräfte. „Die Suche nach Fachkräften ist eine der größten Herausforderungen für die Wirtschaft. Die Nachfrage hat sich seit unserer letzten Umfrage noch weiter verstärkt”, betonte WK Wien- Präsident Walter Ruck, der die Studie diese Woche gemeinsam mit Wiens Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr präsentierte. Zuletzt wurde die Analyse 2019 durchgeführt. Im Vergleich zeigt sich, dass die Nachfrage nach Absolventen aus allen Bildungswegen heute höher ist als vor drei Jahren. Deutlich ist das etwa bei der Lehre: Während 2019 ein Viertel der Befragten angab, in den nächsten drei bis fünf Jahren mehr Lehrlinge aufnehmen zu wollen, sind es heute vier von zehn Betrieben. Die Lehrlingszahlen spiegeln diese Entwicklung: Zum Jahreswechsel gab es in den Wiener Betrieben um 20 Prozent mehr Lehranfänger als vor einem Jahr. Das größte Unterangebot an Bewerbern orten die Betriebe in den Bereichen Büro/Verwaltung, Handel, Tourismus, Metalltechnik und Maschinenbau. Anhaltend hoch bleibt auch die Nachfrage nach Absolventen von Höheren Technischen Lehranstalten, Fachhochschulen und Universitäten. Die Betriebe sehen hier vor allem ein Unterangebot bei Technik- und Informatik-Experten. Aber auch bei Absolventen kaufmännischer Ausbildungen und bei AHS-Maturanten steigt der Bedarf. So möchte ein Sechstel der befragten Betriebe künftig mehr HAK-Absolventen beschäftigen, 2019 war es nur eines von zehn Unternehmen. „Bildung ist der Schlüssel für ein geglücktes und erfolgreiches Leben. Der Fachkräftemangel führt dazu, dass sich die Bedeutung der Bildung noch weiter verstärkt hat und dies auch in Zukunft weiter tun wird”, sagt Bildungsstadtrat Wiederkehr. Die Stadt Wien habe im Regierungsübereinkommen einen klaren Bildungsschwerpunkt gesetzt, der sicherstellt, dass allen Wienern eine breite Auswahl an Bildungsmöglichkeiten zur Verfügung steht.
Das Maßnahmenpaket der Wirtschaftskammer Wien zur Fachkräftesicherung
- Säule 1: Lehre und Bildung Refundierung der Kommunalsteuer für Lehrverhältnisse, Lehrlings-Stipendium für Erwachsene, Entbürokratisierung des Lehrverhältnisses, Ausbau der Förderungen für Lehrbetriebe
- Säule 2: Zuzug Reform der Rot-Weiß-Rot-Karte, Rot-Weiß-Rot-Karte für Lehrlinge
- Säule 3: Bestehende Potenziale nutzen Mehr Vollzeit statt Teilzeit, Senioren im aktiven Erwerbsleben halten
- Säule 4: Offensive für den Unterricht und Schulbau Bildungspflicht statt Schulpflicht, mehr Wirtschaft in die Schule, Flexibilisierung der Unterrichtszeiten und –formen an den Berufsschulen, Modernisierung und Ausbau der Schulstandorte
Veränderung des Arbeitsmarkts ist dauerhaft
„Der Arbeitsmarkt hat sich verändert, das Arbeitskräfteangebot wächst weniger stark und es gibt weniger Junge. Diese Situation ist nicht nur kurzfristig, sondern wird im Prinzip so bleiben”, betont Helmut Mahringer, Arbeitsmarktexperte des Wirtschaftsforschungsinstituts Wifo. In den letzten Jahren habe sich der heimische Arbeitsmarkt in einer Sondersituation befunden, weil die Demografieentwicklung für ein ständig stark steigendes Arbeitskräfteangebot gesorgt hatte. „Nun kehrt er zurück in eine Normalsituation.” „Der Mangel an Fachkräften ist für die Unternehmen eines der dringendsten Probleme. Daher sind jetzt Gegenmaßnahmen gefragt, die sowohl rasch als auch nachhaltig wirken”, sagt Ruck. Die WK Wien hat ihre Vorschläge für eine Fachkräfteoffensive in einem Maßnahmenkatalog gebündelt. Darin enthalten sind unter anderem konkrete Schritte zur Attraktivierung der Lehre - von der Refundierung der Kommunalsteuer für Lehrverhältnisse über mehr Förderungen für Lehrbetriebe bis zum Stipendium für Erwachsene, die erstmals eine Lehre beginnen. Parallel muss die Modernisierung der Lehre weiter vorangetrieben und - wie auch von Wifo-Experten Mahringer gefordert – die Fachkräftequalifizierung durch Erwachsenenbildung ausgebaut und vereinfacht werden. Und: Der Lehrabschluss soll als Zugangsberechtigung für ein facheinschlägiges Studium gelten - ein wesentlicher Schritt, um mehr gut qualifizierte Jugendliche für die Lehre zu gewinnen.
Reformen beginnen im Schulsystem
Schon davor, im Schulsystem, sieht die WKWien zentralen Handlungsbedarf, damit eine gute Basis für den künftig benötigten Fachkräftenachwuchs gelegt wird. Mehr Wirtschaftswissen in die Lehrpläne aller Schulen - am besten über ein eigenes Schulfach Wirtschaft ab der 5. Schulstufe - zählt ebenso dazu wie die Umsetzung der von der WK Wien seit langem geforderten Bildungspflicht, bei der nicht Anwesenheit, sondern Leistung zählt: Die Schüler können ihre Schulkarriere erst dann beenden, wenn sie definierte Bildungsziele erreicht haben. Während viele der genannten Maßnahmen auf den künftigen Fachkräftebedarf wirken, könnte der akute Bedarf an Fachkräften durch eine weitere Reform der Rot-Weiß-Rot-Karte, die den Zuzug qualifizierter Mitarbeiter vereinfacht, und ihre Ausdehnung auf Lehrlinge gelindert werden. Zusätzlich braucht es auch Ideen, um bestehende Potenziale besser zu nutzen. Die WK Wien schlägt beispielsweise einen Steuerfreibetrag vor, der das Arbeiten über das gesetzliche Pensionsalter hinaus attraktiver macht. Und der Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten und die steuerliche Abzugsfähigkeit von Betreuungskosten sind wichtige Schritte, um den hohen Teilzeitanteil vor allem bei der Frauenbeschäftigung zu reduzieren.
