Frau mit Blindenstock, Sonnenbrille und Smartphone am Ohr  lacht
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Wenn bereits kleine Hürden unüberwindbar werden

Menschen mit Behinderung benötigen eine barrierefrei gestaltete Umwelt. Neben der baulichen ist auch die digitale Welt mitzubedenken, wie ein neues Gesetz näher definiert.

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Aktualisiert am 05.08.2023
Laut Statistik Austria sind 1,34 Millionen Personen der österreichischen Wohnbevölkerung im Alter ab 15 Jahren dauerhaft von einer gesundheitlichen Beeinträchtigung betroffen. Das sind 18,4 Prozent der Gesamtbevölkerung. In den meisten Fällen sind es Behinderungen des Bewegungsapparates, nämlich bei rund 14 Prozent. Doch auch Defizite beim Sehen oder Hören (3 bzw. 2 Prozent) spielen eine große Rolle, genauso wie psychische Probleme (3,7 Prozent) oder geistige Beeinträchtigungen (0,8 Prozent).

Um einer Diskriminierung und Ausgrenzung dieser Personengruppen vom gesellschaftlichen Leben vorzubeugen, trat in Österreich 2006 das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG) in Kraft. Dieses legt fest, dass sämtliche Angebote - von Dienstleistungen über technische Gebrauchsgegenstände bis hin zu digitalen Kommunikationsservices - für Menschen mit Behinderungen „in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar” sein müssen. „Für die praktische Umsetzung von Barrierefreiheit bedeutet dies zu gewährleisten, dass etwas erkannt, verstanden, erreicht und genutzt werden kann”, bringt es Rudolf Kravanja, Präsident des ÖZIV - Bundesverband für Menschen mit Behinderungen, auf einen einfachen Nenner.  Dementsprechend ist es für Unternehmen von großer Wichtigkeit, das eigene Angebot hinsichtlich Barrierefreiheit zu analysieren. Eine kostenfreie, individuelle Überprüfung wie auch weiterführende Infos bietet die Webseite barriere-check.at der Wirtschaftskammer Österreich und des ÖZIV (siehe Kasten). 

European Accessibility Act 

Neben den baulichen sind zudem auch die digitalen und sprachlichen bzw. kommunikationsrelevanten Barrieren im gesellschaftlichen Leben von Bedeutung. Denn ein großer Teil unseres wirtschaftlichen und sozialen Lebens findet mittlerweile in der digitalen Welt statt. Doch auch hier lauern Barrieren, die für viele gar nicht sichtbar, aber für manche nicht zu überwinden sind. Diese zu beseitigen hat der „European Accessibility Act” zum Ziel. Eine Richtlinie der Europäischen Union, die entstand, um die Barrierefreiheitsanforderungen von Produkten und Dienstleistungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie europaweit auf denselben Standard zu bringen. Darüber hinaus soll damit generell die Verfügbarkeit barrierefreier Produkte auf dem EU-Binnenmarkt erhöht werden.

Dieser „European Accessibility Act” wurde hierzulande aktuell ins nationalen Verfassungsrecht implementiert und mündete im neuen Barrierefreiheitsgesetz (BAfG), dass im Juli sowohl den National- als auch den Bundesrat passierte. In Kraft tritt es mit 28. Juni 2025 und betrifft Geräte (u.a. PCs, Smartphones, Modems, E-Reader, Spielkonsolen, Bankomaten) wie auch digitale Dienstleistungen (z.B. E-Banking, E-Commerce, E-Ticketing, Videotelefonie, Online-Messenger-Dienste, E-Books). Konkret werden damit Unternehmen verpflichtet, Dienstleistungen und Produkte mit dem Schwerpunkt Informations- und Kommunikationstechnologie, die nach dem 28. Juni 2025 auf den Markt gebracht werden, barrierefrei zu gestalten. 

Ausnahmen und Fristen

Speziell für den Dienstleistungsbereich ist eine Übergangsfrist von fünf Jahren vorgesehen, jedenfalls wenn das jeweilige Service in dieser Form von einem Unternehmen bereits vor dem 28. Juni 2025 angeboten wurde. Des Weiteren dürfen Dienstleistungsverträge, die vor dem 28. Juni 2025 vereinbart wurden, bis zu ihrem Ablauf - jedoch maximal fünf Jahre ab Vereinbarung - unverändert fortgeführt werden.

Wie bei allen Regelungen gibt es auch hier Ausnahmen, etwa wenn die Anforderungen an die Barrierefreiheit eine grundlegende Veränderung des Wesens des Geräts bewirken oder diese zu einer unverhältnismäßigen Belastung für die betroffenen Unternehmen führen würden. Bei Dienstleistungen fallen außerdem Kleinstunternehmen mit weniger als zehn Mitarbeitern und einem Jahresumsatz bzw. einer Jahresbilanzsumme von maximal zwei Millionen Euro nicht unter das Gesetz. 

Eine weitere Ausnahme betrifft bereits im Einsatz stehende Selbstbedienungsterminals: Diese dürfen sogar noch bis 28. Juni 2040 - maximal aber bis 20 Jahre nach der ersten Ingebrauchnahme - weiter betrieben werden.

Branchen-Beispiele und Pflichten

Dem BAfG zufolge ist es Aufgabe der Hersteller, die Konformität ihrer Produkte zu bewerten und gegebenenfalls zu begründen, warum die geforderte Barrierefreiheit nicht in allen Punkten erreicht werden kann. Denn grundsätzlich müssen alle in Verkehr gebrachten Produkte, die sich als nicht gesetzeskonform herausstellen, verbessert bzw. zurückgenommen werden. Zudem ist die Marktüberwachungsbehörde zu informieren, wofür hierzulande das Sozialministeriumsservice zuständig ist. Übrigens dürfen auch Importeure dann nur mehr mit dem Gesetz konforme Produkte in Verkehr bringen.

Was den Bankensektor betrifft, haben wichtige Systeme wie Identifizierungsmethoden und elektronische Signaturen barrierefrei zugänglich zu sein. Die Betreiber von Selbstbedienungsterminals - darunter fallen auch Bankomaten - müssen zudem vorab Informationen über die bauliche Zugänglichkeit bereitstellen. Etwa kann die Unternehmenswebseite hierfür genutzt werden und dort zentrale Informationen wie Gerätehöhe, Wendebereiche oder vorhandene Orientierungssysteme angeführt werden.

Was passiert bei Verstößen?

Bei Verstößen werden die betroffenen Unternehmen im ersten Schritt dazu aufgefordert, die Gesetzeskonformität des Produkts bzw. der Dienstleistung herzustellen. Als Ultima Ratio wären auch ein Produktrückruf bzw. die Verpflichtung zur Einstellung der Dienstleistung möglich. Abhängig von der Größe des Unternehmens und von der Art des Verstoßes drohen zudem Verwaltungsstrafen von bis zu 80.000 Euro. Gegen allfällige Bescheide des Sozialministeriumsservice kann beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde eingelegt werden.

Doch was sagt die Interessenvertretung zu dem neuen Gesetz? „Das BAfG stellt aus unserer Sicht einen wichtigen ersten Schritt für die Verbesserung hinsichtlich Barrierefreiheit dar”, sagt ÖZIV-Präsident Kravanja: „Allerdings kann die gegenständliche Novelle nur einen Baustein für die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft darstellen - es gibt also noch sehr viel zu tun.” Unternehmen, deren Produkte und Dienstleistungen in das BAfG fallen, rät er, sich bei der Entwicklung ihrer Angebote und Dienstleistungen beraten zu lassen.

<<Infokasten 1>>


Das neue Barrierefreiheits-Gesetz

1. Geltungsbereich

Dienstleistungen und Produkte mit Schwerpunkt Informations- und Kommunikationstechnologie, wie 
- PCs, Smartphones, Modems, E-Reader, Smart-TV-Geräte, SB-Terminals, Bankomaten 
- E-Banking, E-Commerce, E-Ticketing, Videotelefonie, Online-Messenger-Dienste oder SMS-Dienste

2. Fristen, Strafen & mehr

Inkrafttreten: 28. Juni 2025 
Übergangsfrist: 5 Jahre (für bestehende Produkte/Dienstleistungen)
Ausnahmen:  Kleinstunternehmen, die Dienstleistungen anbieten
Strafen von max. 80.000 Euro, Marktüberwachung liegt beim Sozialministeriumsservice



Beispiele für bauliche Barrieren

  • Keine Schwellen, Stufen bzw. Gefälle 
  • Bedienelemente wie Lichtschalter in einer Höhe von 90 - 110 cm 
  • Mind. 120 cm Gangbreite 
  • Tastbare Leitsysteme, merkbare Farbkontraste, gute Beleuchtung
  • Kontrastierung von Gefahrenzonen wie Treppen oder Glasflächen

Beispiele für kommunikative Barrieren

  • Bereitstellen wichtiger Infos in einfacher Sprache (kurze Sätze, einfache Wörter, ergänzende Bilder/Zeichnungen) 
  • Bereitstellen wichtiger Infos in relevanten Fremdsprachen, z.B. von ansässigen Minderheiten bzw. in Englisch
  • Übersetzung in Gebärdensprache 

Beispiele für digitale Barrieren

  • Anbieten von Informationen in mehreren Sprachen
  • Bereitstellen von Textalternativen zur Beschreibung von Bildern oder Grafiken
  • Ausreichende Farbkontraste
  • Struktur der Webseite, die Screenreader-Anwendung zum Übersetzen in Braille-Schrift ermöglichen