Zum Inhalt springen
Person ich Schutzkleidung trägt großen Metallbalken über Baugrund, im Hintergrund Kran im Sonnenuntergang
© bannafarsai | stock.adobe.com

Bauen im hohen Norden

Was internationale Unternehmen in Norwegen wissen müssen

Lesedauer: 3 Minuten

Norwegen Energieeffizienz/Green Building Schienenverkehr Hochbau/Baustoffe Verkehrsinfrastruktur/Tiefbau
11.12.2025

Aktuelle Urteile zeigen: Baupraxis und Rechtsprechung beeinflussen sich gegenseitig. Norwegen investiert Milliarden in neue Straßen, Bahnstrecken, Brücken, Häfen und Flughäfen – ein Markt mit großen Chancen für internationale Bauunternehmen. Doch er gilt als anspruchsvoll und streng reguliert. Wer die Spielregeln nicht kennt, riskiert rechtliche Probleme lange bevor der erste Beton gegossen ist.

Wettbewerb vor dem ersten Spatenstich

Die entscheidende Phase vieler Projekte liegt bereits vor Vertragsabschluss. Das norwegische Vergaberecht ist transparent, aber streng. Die Verfahren sind klar strukturiert, die Aufsicht ist engmaschig. Besonders heikel ist der Umgang mit technischen Spezifikationen. Viele Anbieter nehmen jede Vorgabe als zwingend an, doch das ist nicht immer der Fall. Manche Anforderungen sind Wünsche, andere verbindlich. Das Urteil HR‑2025‑1098‑A hat klargestellt, dass Spezifikationen nicht automatisch absolute Anforderungen darstellen und hat so eine praktische Entlastung für ausländische Bieter geschaffen.

Bislang bestand die Gefahr, dass technische Spezifikationen in Ausschreibungen automatisch als „harte“ Anforderungen verstanden wurden. Viele internationale Anbieter kalkulierten deshalb übervorsichtig, erfüllten jede Vorgabe buchstabengetreu und gaben dadurch überteuerte Angebote ab oder sie schieden vorschnell aus, weil sie vermeintliche Pflichtverletzungen fürchteten. Mit der Klarstellung des Gerichtshofs vom Juni 2025 gilt nun: Nur wenn eine Spezifikation so eindeutig formuliert ist, dass ein sorgfältiger Bieter zwingend von ihrer Unverrückbarkeit ausgehen musste, handelt es sich um eine absolute Anforderung. In allen anderen Fällen sind funktional gleichwertige Lösungen zulässig.

Haupt- und Subunternehmer im Risiko

Ein weiterer kritischer Punkt liegt in der Vertragsarchitektur. In Norwegen sind die Standardverträge NS 8405 und NS 8407 weit verbreitet. Sie übertragen dem Hauptauftragnehmer eine umfassende Verantwortung für Fristen, Qualität, Risiken und Koordination, und sämtliche Anforderungen werden in der Regel an Subunternehmer weitergereicht. Fehlt diese „back‑to‑back“-Absicherung, entstehen Haftungslücken, die oft erst bei Verzögerungen sichtbar werden. Subunternehmer wiederum sollten darauf achten, keine Klauseln zu akzeptieren, die sie für Verzögerungen oder Mängel anderer Beteiligter haftbar machen. 

Ausführung: Dokumentation als Schlüssel

Mit Beginn der Bauausführung steigen die Anforderungen. Besonders streng bewertet werden Disruption Claims, also Ansprüche des Auftragnehmers auf Entschädigung für Produktivitätsverluste, die durch Störungen im Bauablauf entstehen. Der Oberste Gerichtshof hat bereits 2019 im Urteil HR‑2019‑1225‑A klargestellt, dass Auftragnehmer zunächst die Störung selbst und sodann den ursächlichen Zusammenhang mit den Mehrkosten nachweisen müssen. Ohne entsprechende Dokumentation und rechtzeitige Anzeige scheitern solche Ansprüche fast immer.

Auch bei Bodenverhältnissen gilt: Der Auftragnehmer muss darlegen, welche Bedingungen er bei Angebotsabgabe vernünftigerweise zu erwarten hatte. Nur wenn die tatsächlichen Gegebenheiten erheblich davon abweichen und die Auswirkungen deutlich ins Gewicht fallen, entsteht ein Anspruch auf Mehrvergütung. In der Praxis ist eine um 20-30 Prozent längere Bauzeit als wesentliche Abweichung gewertet worden. Das bloße Vorhandensein schwieriger Bodenverhältnisse rechtfertigt keinen Anspruch, sofern solche Bedingungen für den Auftragnehmer vernünftigerweise vorhersehbar waren.

Die 15-Prozent-Grenze im NS 8407 und ihre Reichweite

Der Standardvertrag NS 8407 („Design and Build“) enthält eine besondere Regelung: Der Auftraggeber darf Änderungen am Bauvertrag anordnen, solange die dadurch verursachten Mehrkosten nicht mehr als 15 % des ursprünglichen Vertragspreises betragen. Wird diese Schwelle überschritten, greifen besondere Regeln: Der Auftragnehmer kann eine Neuverhandlung verlangen oder die Änderung ablehnen, wenn sie den Vertrag unzumutbar verändert.

Das Urteil HR‑2025‑977‑A hat klargestellt, dass diese 15‑Prozent‑Grenze ausschließlich für direkte Änderungsanweisungen des Auftraggebers gilt. Dies ist der Fall, wenn der Auftraggeber ausdrücklich zusätzliche Leistungen verlangt, die über den ursprünglichen Vertrag hinausgehen. Nicht erfasst sind dagegen Mehrkosten, die aus Umständen in der Risikosphäre des Auftraggebers entstehen, etwa Bauablaufstörungen oder unerwartete Bodenverhältnisse. Diese Kosten können gesondert geltend gemacht werden und fallen nicht unter die 15‑Prozent‑Deckelung.

Für internationale Unternehmen bedeutet das: Sie müssen die Kostenarten klar trennen und ihre Ansprüche präzise begründen. So lässt sich verhindern, dass Auftraggeber die 15‑Prozent‑Grenze als pauschale Obergrenze für alle Zusatzkosten interpretieren. Das Urteil stärkt damit die Position von Auftragnehmern, die durch externe Störungen belastet werden, und schafft mehr Klarheit über die Abgrenzung zwischen Änderungsanweisungen und Risikofolgekosten. 

Formalismus, Kommunikation und Kultur

Neben diesen juristischen Fragen prägt ein strenger Formalismus die Projektabwicklung. Fristen und Mitteilungen müssen exakt eingehalten werden, verspätete Anzeigen führen regelmäßig zum Verlust von Ansprüchen. Schweigen wird häufig als Zustimmung oder Verzicht gewertet, weshalb schriftliche Kommunikation höchste Priorität hat. Informelle Gespräche sind für den Baualltag typisch, ersetzen rechtlich jedoch nichts. Eine lokale Präsenz ist wichtig, um informelle Kommunikation und kulturelle Faktoren zu berücksichtigen. Auftragnehmer müssen zudem über ausreichende Liquidität verfügen, da Zahlungen sich verzögern können und Streitigkeiten vergleichsweise schnell vor Gericht landen.

Norwegen bietet einen hochattraktiven, aber anspruchsvollen Markt.Wer diese Anforderungen unterschätzt, riskiert Fehlkalkulationen, Vertragsstrafen und verlorene Ansprüche – noch vor dem ersten Spatenstich.

Autorin: Vita Gimpel

Weitere interessante Artikel
  • Eine Person mit Helm, weißer Bluse und beigem Unterteil sowie aufgeklapptem Laptop steht zwischen hohen Containerstapel

    12.11.2025

    Griechenland: Branchenreport Transport und Logistik
    Weiterlesen
  • Lächelnde Person beugt sich über gelben Schalter zu Person verschwommen im Vordergrund, die Pass kontrolliert

    17.11.2025

    Fraport Greece: Rekordjahr 2025 mit 37 Millionen Passagieren in Sicht
    Weiterlesen
  • Neben Schienen hockt eine Person, die einen aufgeklappten Laptop hält und zu einer anderen Person blickt, die auf den Schienen steht. Diese hält ein Klemmbrett. Beide Personen tragen Helme und Schutzwesten, ringsum weitere Bahngleise.

    17.11.2025

    Griechenland modernisiert Schienennetz – 90 Mio. Euro 
    Weiterlesen