Einblick in die fortschrittliche staatliche Digitalisierungsstrategie Estlands
Bei einer Studienreise nach Estland konnten unsere Mitglieder die Digitalisierungsstrategie des estnischen Staates kennenlernen und bekamen Einblicke in eine sehr digitale Gesellschaft. Über die Learnings und Erkenntnisse, die diese inspirierende Fachexkursion ermöglicht hat, berichten wir hier.
Lesedauer: 6 Minuten
Valentini-Wanka begrüßt unsere Delegation und bringt uns erstmals Estland, dessen aktuelle politische und wirtschaftliche Situation sowie das Zusammenspiel der baltischen Staaten näher.
Das Wichtigste auf einem Blick:
- Estland ist ein sehr kleines Land (ca. 1,3 Mio Einwohner:innen) das über fast keine Industrie oder Bodenschätze verfügt. Das ist mit ein Grund, warum das Land heute DIE Hochburg der Digitalisierung ist.
- Rund 50 Jahre war Estland eine Teilrepublik der Sowjetunion (Annektion im 2. Weltkrieg). Die Unabhängigkeit erlangte das Land 1991 und nutzte da die Chancen des Neustarts bei null.
- Gerade jetzt spürt das Land die russische Aggression sehr stark und positioniert sich daher politisch auch sehr klar und eindeutig u.a. mit hohen Sanktionen gegen Russland oder der Verbot der Einreise russischer Staatsbürger:innen.
- Ebenso wird versucht die wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland zu lösen – insbesondere im Energiesektor. So wurde mit 1.1.2023 die Anbindung an das russische Stromnetz gekappt und zur Sicherung der Energieversorgung binnen kürzester Zeit ein LNG-Terminal erbaut.
- Durch diese klar Haltung büste das Land allerdings seine Funktion als Drehscheibe im Eurasischen Handel stark ein. Da es defacto keinen „gateway“ nach Westen und Süden gibt, gilt nun umso mehr die Hoffnung in der geplanten Rail Baltika Linie. Auch rücken die baltischen Staaten nun wieder verstärkt zusammen.
- Estland ist an sich sehr krisenerprobt, bereits 2008 war die Finanzkrise stark spürbar nun liegt die Inflation bereits bei 12.1% (Stand 10/22), bis zu 25 % werden erwartet. Auch der Fachkräftemängel ist ein großes Thema.
- Dennoch ist bislang das Investionsklima nicht schlechter geworden und viel ausländische – auch österreichische Investor:innen – sind vor Ort.
„Nur heiraten kann man in diesem Land nicht online!“ 99 % der staatlichen Dienstleistungen sind digital verfügbar.
Estland hat die Chance des Neustarts vor 30 Jahren genutzt, um frühzeitig eine digitale staatliche Verwaltung umzusetzen.
Präsentation "enter e-estland"Seit drei Jahrzehnten arbeitet Estland nun an der Realisierung eines digitalen Staates. So stehen 99 % der behördlichen Dienstleistungen mittlerweile digital zur Verfügung. Seit 2002 ist die digitale Identität für jede:n Bürger:in obligatorisch, seit 2005 kann man digital wählen. Medikamente werden in der Apotheke mit der ID abgeholt, der Führerschein ist ebenfalls auf der ID gespeichert und Steuerberater:innen sind in Estland quasi obsolet, da jede:r Bürger:in die Steuererklärung selbst in wenigen Minuten umsetzen kann. Und das Ende der Fahnenstange ist noch nicht erreicht, künftig wird auch ein 24/7 digitales Bürgerservice mit Spracherkennung angestrebt. (vgl. E-Paper der NZZ vom 24.10.2022)
Kurz gefasst tragen zum Funktionieren folgende Aspekte bei:
- Das Selbstverständnis des estnischen Staates bürgerzentriert zu handeln, mit dem erklärten Ziel, es dem:der Bürger:in so einfach wie möglich zu machen.
- Das digitale „Straßennetz“ x-Road, welches Systeme und Datenbanken verschiedener Behörden miteinander verbindet und den Austausch von Informationen automatisiert. (vgl. E-Paper der NZZ vom 24.10.2022)
- Eine gute digitale Infrastruktur im ganzen Land, sprich mindestens 4G-Abdeckung in allen bewohnten Gebieten.
- Eine high-level IT-Security inkl. 24/7 Überwachung.
Das X-Road Ökosystem
Das System ist das technische Herzstück der estnischen Digitalisierungsstrategie. Es vernetzt Systeme und Datenbanken verschiedenster Behörden und mittlerweile auch privater Unternehmen miteinander und ermöglicht es so, dass Bürgerinnen und Bürger mit nur einer ID möglichst viele Services nutzen können. Dass Datensicherheit hierbei an erster Stelle steht, erklärt sich von selbst. Alle Daten werden daher dezentral gespeichert, es gibt keine gesammelte Datenspeicherung und auch Datenduplizierungen sind gesetzlich verboten.
In der Präsentation und den vielfältigen Unterlagen des eEstonia Briefing Centers erhalten Sie einen Eindruck von der „wahrscheinlich besten digitalen Gesellschaft der Welt“ wie das Institut selbstbewusst anmerkt.
Zur Aufgabe von RIA, der Behörde für Inormationssysteme des estnischen Wirtschaftsministeriums, zählen die Weiterentwicklung des eID, die Gewährleistung des sicheren Datenaustausches sowie die Interoperabilität der staatlichen Informationssystem und die Cybersicherheit.
Im Vortrag von Ilmar Toom werden folgende Kernaussagen getroffen:
- Es braucht die 24/7 IT-Security. Sie ist die Basis, damit eGovernance funktioniert. Täglich ist das System Cyberattacken ausgesetzt. Aktuell um ein Vielfaches mehr durch Russland.
- 2021 = 2.237 Attacken
- TRANSPARENZ ist das Zauberwort bei allem. Ohne Transparenz würde der digitale Staat nicht funktionieren. Sie hilft Probleme zu lösen und ermöglicht die Konzentration auf das Wesentliche.
- 2007 fand eine große Attacke mit einem einhergehenden Datenverlust (rund 70 % der eID-Daten) statt. Die Bürger:innen wurden sofort informiert und aufgefordert umgehend ihre eID zu erneuern.
- In Planung ist eine „data embassy“, eine sogenannte „back up data base“ im Ausland (existiert seit 2017 in Luxemburg). Es ist ein weltweites Novum und damit soll eine Staatsführung auch im Falle eines territorialen Verlustes möglich sein.
- Wesentlich ist auch eine Bewusstseinsbildung für IT-Sicherheit in der Bevölkerung. Das Prinzip „Ownership of Data“ kann nur gelebt werden, wenn der Bürger auch lernt damit umzugehen. Auf eits.ria.ee kann jeder Bürger einsehen, wer/welche Behörde auf seine Daten zugegriffen hat und hat dann die Möglichkeit den Grund zu erfragen.
99 Prozent der behördlichen Dienstleistungen stehen in Estland digital zur Verfügung. Doch wie gelingt es, dass die Bürgerinnen und Bürger diese auch entsprechend in Anspruch nehmen und das Vertrauen in die Sicherheit ihrer Daten haben?
Der Schlüssel zum Erfolg liegt einerseits in der Transparenz, wie sie die estnische Regierung praktiziert. Jede und jeder soll wissen, was mit den persönlichen Daten geschieht. Und dafür braucht es Digitalbildung und einen Internetzugang für alle, das war den Est:innen schon sehr früh bewusst. Daher wurde 1996 das Projekt „Tiigrihüpe“ (Tiger-Sprung) ins Leben gerufen, das für alle Schulen einen entsprechenden Zugang ermöglichte. Heute lernen bereits Kindergartenkinder den Umgang mit dem Internet, in den Schulen wird ab der ersten Klasse programmiert und IT-Lehrgänge an den Universitäten sind zum Teil ausgebucht. (vgl. E-Paper der NZZ vom 24.10.2022)
Wie bereichernd und innovativ ein solches digitales Schulkonzept sein kann, davon konnten sich die Teilnehmer:innen der UBIT-Studienreise beim Besuch der 21. Schule in Tallinn überzeugen. 1.200 Kinder von der ersten bis zur zwölften Klasse lernen dort. Einen Zugang zu Computern gibt es ab der ersten Klasse. Schon die Kleinsten werden behutsam an die digitale Realität herangeführt und versuchen sich an altersgerecht aufbereiten Rechenaufgaben am Laptop. In sogenannten „lego education“-Klassen werden erste Programmierversuche unternommen und Roboter gebaut. Und natürlich hat jede Schülerin die Möglichkeit, digital zu recherchieren.
Auch der Lehrkörper wird digital bestens betreut. Ein eigenes IT-Department kümmert sich täglich darum, dass Hard- und Software einwandfrei funktionieren. Die Schule verfügt über ein digitales Klassenbuch (ekool), dass von Schüler:innen, Lehrer:innen und Eltern gleichermaßen eingesehen werden kann. Digitaler Unterricht zu Covid-Zeiten war eine Selbstverständlichkeit, Lerndefizite gab es für die Schüler:innen in dieser Zeit kaum.
Und bei all der Digitalisierung kommen auch Kunst, Kultur und Kommunikation nicht zu kurz. In der jährlich stattfindenden Kunstwoche entstehen an den Wänden bemerkenswerte Malereien, Musik- und Gesangsunterricht sind im Lehrplan fest verankert und in Debattierklassen wird die aktive Auseinandersetzung mit (gesellschafts-)politischen Fragestellungen trainiert.
Wer also glaubt, dass der frühe Umgang mit digitalen Werkzeugen künstlerische und kommunikative Fähigkeiten verkümmern lässt, wird an dieser Schule eines Besseren belehrt. Das Erlernen von Soft Skills – unter anderem auch Kommunikation und Konfliktmanagement – ist wesentlicher Bestandteil des Lehrplans. Denn sie sind die Basis damit junge Menschen die Fähigkeit erlangen, kreativ und lösungsorientiert zu handeln und so flexibel und agil auf die Anforderungen einer digitalen Arbeitswelt zu reagieren. Beeindruckend zeigt sich in der Schule, wie es gelingt, auf die vielfältigen Talente der Schüler:innen einzugehen, sie zu fördern und weiterzuentwickeln.
Und ja, es gibt auch „digitalfreie“ Zonen an der Schule. Dort verbringen die Kleinen gemeinsam mit den Großen ihre Pausen. Hie und da auch ganz aktiv an einer selbst gebauten Kletterwand.