Othmar Karas: „Wir brauchen keine Neutralitätsdebatte“
„Der EU-Binnenmarkt ist noch nicht fertig“, drängt Othmar Karas, warnt vor Populismus und wettert gegen Nebelgranaten in der Sicherheitspolitik.
Lesedauer: 3 Minuten
Othmar Karas saß ein Vierteljahrhundert als Abgeordneter im Europäischen Parlament, zuletzt als Erster Vizepräsident. Auf Einladung des „Club Alpbach“ gastierte er Anfang der Woche in Graz und sprach über...
… die Etikettierung als „glühender Europäer“:
Da schwingt in der normalen österreichischen Öffentlichkeit – auch in meiner eigenen Partei – manchmal das Gefühl mit, der ist jetzt gegen uns, weil er für Europa ist. Darunter habe ich auch gelitten, weil man nur ein glühender Europäer sein kann, wenn man ein glühender Österreicher ist. Als wir der Europäischen Union beigetreten sind, gab es keine gemeinsame Währung, waren unsere Nachbarn noch nicht in der EU. Erst durch unsere Mitgliedschaft und die Erweiterung der Europäischen Union sind wir vom Rand ins Zentrum gerückt.
… die wirtschaftliche Bedeutung der EU für Österreich:
Zwei Drittel unseres Wohlstands werden außerhalb Österreichs, aber innerhalb der Europäischen Union erwirtschaftet wird. Wir vergessen, dass alleine durch die Teilnahme am Binnenmarkt der volkswirtschaftliche Nutzen von einem Euro EU-„Mitgliedsbeitrag“ bei 36 Euro pro Jahr liegt. Es gibt kein besseres Investment der Republik Österreich. Aber indem wir Europa auf einen Kostenfaktor reduzieren, vergessen wir den gesellschaftspolitischen, historischen Auftrag der EU: die Überwindung der Vorurteile und der gewaltsamen Teilung. Was ist uns der Friede wert? Was sind uns die vier Freiheiten wert? All das ist kein reines Rechenexempel. Europa ist eine Idee.
… die Allgegenwärtigkeit Europas:
Worüber diskutieren wir derzeit in unseren Gemeinden, in unseren Familien, in unseren Betrieben? Energiepreis, Krieg, demokratische Entwicklung, Wettbewerbsfähigkeit, Pandemie, Klima, Migration. Alle diese Themen finden derzeit gleichzeitig statt und sind miteinander verwoben. Und alle diese Themen kennen keine nationale Antwort. Die EU und die europäische Idee ist nie eine Frage von Brüssel oder Graz. Wenn wir es nicht mehr gemeinsam machen wollen, können wir die kleinen und die großen Probleme unserer Zeit nicht lösen.
… den Reiz des Populismus:
Manche laufen der nationalen, der einfachen Antwort, der Polarisierung und der Schuldzuweisung nach, weil es einfacher ist, zu sagen, die anderen sind es. Die Interdisziplinarität ist der Eindimensionalität, manchmal auch der Provinzialität geopfert worden. Der generationenübergreifende, nationale und Parteigrenzen übergreifende Dialog ist der Polarisierung und der Schuldzuweisung geopfert worden. Die europäische Integration ist für viele Menschen nicht mehr die Lösung, sondern die Ursache der Probleme, obwohl alle lokalen, regionalen und nationalen Themen gleichzeitig europäische sind. Wir dürfen uns nicht von einer Stimmungsdemokratie verführen lassen.
… die aktuelle Verunsicherung in der Gesellschaft:
Derzeit haben viele Menschen Sorgen und Angst und viele Politiker sind überfordert. Wir stoßen täglich an unsere selbstgelegten Grenzen, rechtlichen Grenzen, Kompetenzgrenzen. Grenzen, die eigentlich keine mehr sein dürften, weil wir nur im Miteinander die Dinge lösen können.
... Österreichs Neutralität:
Bereits beim Ungarn-Aufstand 1956 hat der Bundeskanzler gesagt, wir nehmen Flüchtlinge auf, weil unsere Neutralität zwar eine militärische, aber keine politische ist. Wir sind der UNO beigetreten und haben immer gesagt, wir sind UNO-Beschlüssen gegenüber nicht neutral. Wir sind der Europäischen Union beigetreten und sind dort nicht neutral, sondern solidarisch. Österreich hat dem „Strategischen Kompass“ zugestimmt, also dem Aktionsplan zur Schaffung einer Verteidigungsunion und Zusammenarbeit in Europa. An der Schaffung eines Bündnisses zum Schutz Österreichs führt kein Weg vorbei. Wir brauchen daher keine Neutralitätsdebatte. Man muss nur sagen, was wir tun und wozu wir verpflichtet sind – dann erspart man sich die Nebelgranaten, mit denen österreichische Sicherheitspolitik permanent diskutiert wird.
… den Wettstreit zwischen der EU und den USA:
Derzeit hat Europa einen Anteil am Weltwirtschaftsvolumen von rund 19 Prozent. Bis 2050 werden es laut Prognosen unter zehn Prozent sein. Aber unser Binnenmarkt, der Binnenmarkt der Bürgerinnen und Bürger Europas, hat 450 Millionen Menschen. Der nordamerikanische, der des Herrn Trump, hat 360 Millionen. Wir hätten da einen klaren Vorteil, aber unser Binnenmarkt ist fragmentiert und bürokratisiert. Der Binnenmarkt ist nicht fertig: Energie, Gesundheit, Soziales, Steuern, Kapitalmarkt – alles national geregelt. Wenn wir nur den Binnenmarkt fertigstellen und die Barrieren beseitigen würden, hätten wir in Europa ein Wachstums- und Beschäftigungspotenzial von mindestens fünf Prozent.
… Europa zukünftige Rolle:
Die Frage ist, welche Rolle spielen wir in einer neuen geopolitischen Weltordnung? Zerfallen wir in die Nationalismen der Vergangenheit? Helfen wir damit jenen, die uns destabilisieren wollen? Das sind keine Spielereien. Ernsthaftigkeit ist gefragt. Leadership ist gefragt.